Es war nicht zu erwarten angesichts immer schnellerer und kleinportionierter Bücher, aber ist jetzt Wirklichkeit: Die großen Pfarrhaus - Romane von Ina Seidel („Wunschkind“, „Lennacker“) aus dem letzten Jahrhundert, bekommen durch den deutschen Autor Hans-Helmut Decker-Voigt eine weitere ebenso dramatische wie menschliche Perspektive auf das „Pfarrhaus in zwei Weltkriegen“ und bis in das 21. Jahrhundert hinein.
Die lutherische Prägung dieses Pfarrhauses ist derart liberal und weit geschildert, das sich darin auch Menschen unserer reformierten wie katholischen Pfarrhäuser in Fragen des Umgangs mit Sexualität, mit Neurosenbildung, mit „Verkündigung und Psychologie“ in den lebhaft geschilderten Persönlichkeiten in großen Teilen wiederfinden dürften. In Russland (russische-orthodoxe „Pfarrhäuser“) wird das Werk derzeit übersetzt.
Decker-Voigt ist formal wie stilistisch keine Ina Seidel, sondern geht auf Wegen zwischen einem modernen Theodor Fontane und einem Walter Kempowski. Beide schufen auch Literatur, die von Dokumenten vergehender Zeiten lebt.
Die Materialschlacht mit Familiendokumenten des Autors aus sechs Jahrhunderten wird offenbar zu einem literarischen Wurf, der für die Kulturgeschichte sehr weit reichen dürfte. Alles das ist mit etlichen von Ferne an Don Camillo erinnernden „Gesprächen mit Christus“ und Prisen aus Psychoanalyse und Tiefenpsychologie angereichert. Der Autor wurde nach dem Stallduft Pfarrhaus beruflich davon geprägt – sein enormes Werk auch.
Albrecht Zurbriggen